Von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedete Resolution vom 28. Januar 2015 

1. Der soziale Dialog, der regelmäßige und institutionalisierte Dialog zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern, ist seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der sozioökonomischen Prozesse in Europa. Das Recht, sich zu organisieren, Kollektivverhandlungen zu führen und zu streiken – allesamt
wesentliche Komponenten dieses Dialogs – sind nicht nur demokratische Grundsätze moderner Wirtschaftsprozesse, sondern in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten und in der revidierten Europäischen Sozialcharta verankerte Grundrechte.

2. In den letzten Jahren sind diese Grundrechte allerdings in vielen Mitgliedstaaten des Europarats im Kontext derWirtschaftskrise und der Sparpolitik in Gefahr geraten. In einigen Ländern wurde das Recht auf Organisation eingeschränkt, Tarifverträge wurden aufgekündigt, Tarifverhandlungen wurden untergraben, und das Streikrecht wurde begrenzt. Dies hat in den betroffenen Ländern zu einer Zunahme der Ungleichheiten, einer anhaltenden Tendenz zu niedrigeren Löhnen und negativen Auswirkungen auf die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen geführt.

3. Die Parlamentarische Versammlung ist über diese Trends und ihre Folgen für die Werte, Institutionen und Resultate der wirtschaftlichen Ordnungspolitik äußerst besorgt. Ohne Chancengleichheit für alle beim Zugang zu menschenwürdiger Beschäftigung und ohne geeignete Mittel zur Verteidigung der sozialen Rechte in einer globalisierten Welt werden die Integration, die Entwicklung und die Lebenschancen ganzer Generationen infrage gestellt. Mittelfristig könnte der Ausschluss einiger Bevölkerungsgruppen von der wirtschaftlichen Entwicklung, vom Wohlstand und von der Entscheidungsfindung die europäischen Volkswirtschaften und die Demokratie selbst beschädigen.

4. Die Investition in soziale Rechte ist eine Investition in die Zukunft. Zur Errichtung und Aufrechterhaltung starker und bestandsfähiger sozioökonomischer Systeme in Europa ist es erforderlich, die sozialen Rechte zu schützen und zu fördern.

5. Insbesondere das Recht auf Tarifverhandlungen und auf Streik ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass Arbeitnehmer und ihre Organisationen sich wirksam am sozioökonomischen Prozess beteiligen können, um ihre Interessen in Bezug auf Löhne, Arbeitsbedingungen und soziale Rechte geltend zu machen. Die „Sozialpartner“ sollten als das angesehen werden, was sie sind: als „Partner“ beim Erzielen einer Wirtschaftsleistung und mitunter als Gegner im Ringen um einen Ausgleich ihrer Interessen hinsichtlich der Verteilung von Macht und knappen Ressourcen.

6. In ganz Europa und darüber hinaus ist ein Umdenken erforderlich, damit die derzeitige Krisensituation überwunden werden und ein neues wirtschaftliches Zeitalter für das 21. Jahrhundert anbrechen kann.

7. Die Parlamentarische Versammlung fordert daher die Mitgliedstaaten des Europarates auf, zur Wahrung der höchsten Standards der Demokratie und einer guten Staatsführung im sozioökonomischen Bereich die folgenden Maßnahmen zu treffen:

7.1. das Recht auf Organisation, auf Kollektivverhandlungen und auf Streik schützen und stärken, indem sie 

7.1.1. die revidierte Europäische Sozialcharta ratifizieren und umsetzen, sofern sie dies noch nicht getan haben;
7.1.2. ihr Arbeitsrecht weiterentwickeln oder überarbeiten, um es hinsichtlich dieser spezifischen Rechte auf eine umfassende und solide Grundlage zu stellen;
7.1.3. diese Rechte wiederherzustellen, wenn Institutionen und Prozesse in der letzten Zeit bereits durch rechtliche oder ordnungspolitische Änderungen unterminiert wurden;

7.2. die wirtschaftlichen Akteure dafür rechenschaftspflichtig machen, dass sie die Wahrung des Rechts auf Organisation, auf Kollektivverhandlungen und auf Streik gewährleisten, indem sie

7.2.1. das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden ratifizieren und umsetzen, sofern sie dies noch nicht getan haben;
7.2.2. kollektive Instrumente wie den „kollektiven Rechtsschutz“ (insbesondere für Gewerkschaften) im Wege arbeitsrechtlicher Vorschriften durchsetzen, um rechtswidrige Geschäftspraktiken zu verhüten;
7.2.3. eine effektive,mit ausreichendenMitteln ausgestattete Arbeitsaufsicht einsetzen oder aufrechterhalten;

7.3. die derzeitige Politik neu ausrichten, indem sie den finanziellen und wirtschaftlichen Sparmaßnahmen ein Ende setzen und den Schwerpunkt auf eine proaktive Investitionspolitik, etwa koordinierte Mindestinvestitionen, eine stärkere Einbindung der Sozialpartner und die Förderung menschenwürdiger Arbeit für alle legen;

7.4. ein Höchstmaß an Kohärenz bei der Entscheidungsfindung in verschiedenen institutionellen und rechtlichen Kontexten, darunter im Rahmen der EU, auf nationaler Ebene und auf der Ebene des Europarates, anstreben, um die Wirksamkeit der bestehenden Mechanismen zum Schutz der sozialen Rechte zu gewährleisten.