Empfehlung 1884 (2012)[1]
(Übersetzung: Büro Andrej Hunko)

1. Seit 2009 wurden in ganz Europa strenge Austeritätsprogramme aufgelegt, mit denen die öffentlichen Haushalte konsolidiert werden sollen. In jüngerer Zeit werden sowohl die wirtschaftliche Wirksamkeit von Kürzungsmaßnahmen als  auch die eigentlichen Ursachen der Krise von internationalen Experten und Organisationen immer stärker hinterfragt. Auch die kurz- und langfristigen negativen Auswirkungen der Maßnahmen auf demokratische Prozesse und Standards für soziale Rechte sind in die Kritik geraten.

2. Die Parlamentarische Versammlung ist besorgt über die Auswirkungen der derzeitigen Austeritätsprogramme auf die Standards der demokratischen und sozialen Rechte. Sie befürchtet, dass die zurzeit verfolgten restriktiven Ansätze, die hauptsächlich auf Haushaltkürzungen bei den Sozialausgaben beruhen, ihr Ziel die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren nicht erreichen könnten, sondern die Gefahr in sich bergen, die Krise weiter zu vertiefen und die sozialen Rechte zu untergraben, da hauptsächlich die einkommensschwachen Klassenund die verwundbarsten Teile der Bevölkerung betroffen sind.

3. In diesem Zusammenhang ruft die Versammlung zu einer Neubewertung der gegenwärtigen Krise auf, bei der die großen Rettungspakete zugunsten europäischer Banken als Hauptursachen anerkannt werden. Die Versammlung hält es für erforderlich, die langfristige Frage des Ausgleichs der öffentlichen Finanzen von den Finanzmärkten und ihrer spezifischen Dynamik sowie ihren kurzfristigen Interessen zu trennen. Auf der Ebene der Europäischen Union sollte das Verbot der monetären Finanzierung der Staaten über die Europäische Zentralbank (EZB) diskutiert werden.

4. Angesichts der Folgen des „ungezügelten“ Wirtschaftsliberalismus sollten das europäische Sozialmodell und seine verschiedenen nationalen Ausprägungen als gemeinsame europäische Vision, die durch das Grundprinzip der “Sozialen Marktwirtschaft“ charakterisiert ist, geschützt werden und der Wohlfahrtsstaat sollte weiter gestärkt werden, auch durch neue soziale Partnerschaften, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen.

5. Die Umsetzung von Austeritätsmaßnahmen ist oft mit Gremien verbunden, deren Wesen Fragen in Bezug auf demokratische Kontrolle und Legitimität aufwerfen, wie bei der so genannten „Troika“ des Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank oder neu gebildeten technokratischen Regierungen, wie sie in jüngster Zeit in mehreren Mitgliedstaaten entstanden sind. Es wird davon ausgegangen, dass die jüngste Entscheidung, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und den damit verknüpften Europäischen Fiskalpakt ins Leben zu rufen, den Druck auf die Mitgliedstaaten, neue Austeritätsmaßnahmen durchzuführen, weiter erhöhen wird.

6. Die Versammlung empfiehlt eine grundlegende Neuorientierung der gegenwärtigen Austeritätsprogramme, die ihre quasi-ausschließliche Fokussierung auf Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich wie bei Renten, Gesundheitsdiensten oder Familienleistungen beendet. Sie empfiehlt Maßnahmen zur Steigerung der öffentlichen Einnahmen durch stärkere Besteuerung der höheren Einkommensgruppen und der Vermögen, durch Verbreiterung der Steuerbemessungsgrundlage und Verbesserung des Steuereinzugs, der Effizienz der Steuerverwaltung und der Bekämpfung von Steuerbetrug und -hinterziehung.

7. Um die gegenwärtige Krise zu überwinden und zur eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten, sollten anstelle des Austeritätsansatzes energische Maßnahmen zugunsten der wirtschaftlichen Erholung ergriffen werden, die auf der Schaffung neuer, qualitativ hochwertiger Beschäftigungsmöglichkeiten, dem gleichen Zugang zur Beschäftigung und der Unterstützung junger Menschen beim Übergang von der Ausbildung zu einer beruflichen Laufbahn beruhen.

8. Auch wenn viele der Entscheidungen zur so genannten „Staatsschuldenkrise“ im Rahmen der Institutionen der Europäischen Union und der Eurozone getroffen werden, halten viele Staaten des Größeren Europas es für nötig, die öffentlichen Haushalte aus verschiedenen Gründen zu konsolidieren, während sie weiterhin die Auswirkungen der anhaltenden Wirtschaftskrise spüren. Alle Mitgliedstaaten des Europarats sollten darum aktiv einbezogen werden, wenn es um das Finden gemeinsamer Lösungen geht, um die gegenwärtige Krisensituation auf äußerst demokratische Weise und unter höchster Achtung der sozialen Rechte zu überwinden.

9. Was den Schutz der Menschenrechte (einschließlich der sozialen Rechte) angeht, bleibt die revidierte Europäische Sozialcharta (ETS Nr. 163) die wichtigste Grundlage, während die von dem Europarat 2007 erarbeitete Strategie zur Innovation und guten kommunalen Regierungsführung mit 12 Grundsätzen für „gute demokratische Regierungsführung“ als wichtiger Bezugspunkt moderner Demokratien weiterhin gefördert werden sollte.

10. Im Lichte dieser Bewertung ruft die Parlamentarische Versammlung die Mitgliedstaaten dazu auf:

10.1. die Untergrabung bestehender demokratischer Standards bei Entscheidungen in Verbindung mit der „Staatsschuldenkrise“ und möglicherweise zu ergreifenden europäischen Maßnahmen zu verhindern, indem nationalen Regierungen und anderen demokratisch legitimierten Institutionen, insbesondere Parlamenten, der höchstmögliche Ermessensspielraum bewahrt wird;

10.2. Überlegungen dazu anzustellen, wie solche Prozesse in Zukunft demokratischer gestaltet werden könnten, auch im Hinblick auf die künftigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen auf europäischer Ebene, und unterdessen mit größter Transparenz zu handeln, wenn weitreichende Entscheidungen getroffen werden, die sich tiefgreifend auf die Volkswirtschaften und das Leben der Menschen auswirken;

10.3. die revidierte Europäischen Sozialcharta und das Europäische Abkommen über Soziale Sicherheit (ETS Nr. 078) zu unterzeichnen und zu ratifizieren, wenn dies noch nicht geschehen ist, und die Unterstützung einer Überarbeitung letzterer in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen der heutigen Arbeitssituationen und Lebensstile zu erwägen, um so die Rechte Bürger der Mitgliedstaaten auf ein Niveau zu heben, das mindestens gleich oder höher als die in den bilateralen Vereinbarungen garantierten Rechte ist;

10.4.wo immer dies anwendbar ist, eine öffentliche Diskussion über die sozialen Folgen und die Auswirkungen auf die demokratische Souveränität zu beginnen, sollten der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Europäische Fiskalpakt in Kraft treten;

10.5. Maßnahmen zur Modernisierung demokratischer Strukturen und Prozesse durch Einführung neuer Formen der Beteiligung und Anhörung der Bürger – wie Referenden – zu erwägen, wo immer die Verfassung oder die Gesetze solche Möglichkeiten vorsehen;

10.6. die gegenwärtige Austeritätsprogramme unter dem Blickwinkel ihrer kurz- und langfristigen Auswirkungen auf demokratische Entscheidungsprozesse und die Standards bei sozialen Rechten, Sozialversicherungssystemen und Sozialeinrichtungen wie Renten- und Gesundheitssysteme, familienbezogene Dienstleistungen oder Assistenzdienste für die verwundbarsten Gruppen (Behinderte, Migranten, Arbeitslose usw.) eingehend zu bewerten;

10.7. Haushaltskonsolidierungsprogramme zu erarbeiten, die nicht nur auf Einsparungen bei öffentlichen Haushalten auf verschiedenen Ebenen und insbesondere bei Sozialausgaben, sondern auch auf zu erlangenden höheren Einnahmen, insbesondere durch eine höheren Besteuerung vermögenderer Einkommensgruppen und hoher Unternehmensgewinne, sowie einem entschiedenerem Kampf gegen Steuerhinterziehung, Steuerbetrug, Steuerparadiese, Korruption und die Schattenwirtschaft beruhen;

10.8. wo immer dies möglich ist, Haushaltskonsolidierungsprogramme durch Maßnahmen zur Förderung eines nachhaltigen Wirtschaftswachstums zu ergänzen, darunter auch Maßnahmen, die darauf abzielen, neue qualitativ hochwertige Arbeitsplätze sowie die Voraussetzungen und das wirtschaftliche Umfeld für erfolgreiche Einzelinitiativen und Unternehmertum zu schaffen, da Beschäftigung eine Grundbedingung für künftige Steuereinahmen darstellt;

10.9. umfassende wirtschaftliche Konjunkturprogramme zur Überwindung hoher Arbeitslosenquoten und ihrer negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen einzuleiten, einschließlich gezielter Maßnahmen zur Unterstützung junger Menschen im Übergang von der Ausbildung zur Beschäftigung;

10.10. Bemühungen um eine verstärkte Regulierung des Finanzsektors und der Finanzstrukturen weiterzuverfolgen und zu unterstützen, deren Größe, systemische Integration, Komplexität oder Vernetzung die Finanzstabilität und die Fähigkeit der Regulierungsbehörden gefährden können, deren Forderungen zu widerstehen, einschließlich Maßnahmen bezüglich desSchattenbankensystems, wie sie vom Europäischen Parlament verlangt und zurzeit von der Europäischen Kommission eingeleitet werden;

10.11. den gegenseitigen Informationsaustausch, die Zusammenarbeit und die Harmonisierung der Steuern zu verbessern, gemeinsame Maßnahmen zur schrittweisen Beseitigung von Steueroasen und finanzpolitischen Grauzonen einzuführen und die Möglichkeiten für die Einführung neuer Steuern auf bestimmte Arten von finanziellen Transaktionen in ganz Europa zu untersuchen.


[1] Debatte der Versammlung am 26. Juni 2012 (21. und 22. Sitzung) (siehe Dok.12948, Bericht des Ausschusses für Soziale, Gesundheit und nachhaltige Entwicklung, Berichterstatter: Herr Hunko). Von der Versammlung verabschiedeter Text am 26. Juni 2012 (22. Sitzung).