Von Andrej Hunko

Es ist ein historischer Wahlsieg für die konservativen Tories und eine bittere Niederlage für die sozialdemokratische Labour-Partei. Bei der Parlamentswahl in Großbritannien gewannen erstere 66 Sitze hinzu und verfügen nun über eine absolute Mehrheit, während letztere 42 Sitze verloren. Seit 1935 hatte Labour nicht so wenige Abgeordnete im britischen Unterhaus.

Dieses Urteil relativiert sich allerdings, wenn man die Stimmverteilung betrachtet und nicht die Zahl der Sitze. So entspricht der Stimmanteil von gut 32 Prozent für Labour etwa den Umfrageergebnissen vor der Wahl und liegt über den Wahlergebnissen von 2010 und 2015. Zusammen mit den Liberaldemokraten, den Grünen und der schottischen Nationalpartei SNP käme eine Koalition mit Labour rechnerisch sogar auf eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen.

Boris Johnson inszenierte sich als »Vollstrecker des Volkswillens«

Durch das britische Mehrheitswahlrecht werden die Ergebnisse jedoch stark verzerrt, so dass die Tories mit gut 43 Prozent der Stimmen 56 Prozent der Sitze erhalten. Diese dürften vor allem davon profitiert haben, dass sich das Lager rechts der Mitte weitgehend hinter den Konservativen versammelte und damit viele Direktmandate garantierte. Auf der anderen Seite spalteten sich die Stimmen hingegen häufig zwischen mehreren Parteien auf.

Ohne Zweifel war der Brexit bestimmendes Thema des Wahlkampfes. Mit seinem Versprechen, den Austritt aus der EU nun wirklich und schnell umzusetzen, konnte Boris Johnson offenbar Punkten. Dazu beigetragen dürfte eine gewisse Ermüdung haben, nachdem das Thema seit nunmehr etwa drei Jahren in allen Debatten ganz oben stand, jedoch zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hatte. Johnson konnte sich so als "Vollstrecker des Volkswillens" inszenieren, der endlich das Ergebnis des Referendums von 2016 umsetzen will.

Undeutliche Haltung von Labour in der Brexit-Frage

Labour hingegen hatte mit einer in der Brexit-Frage gespaltenen Wählerbasis zu kämpfen und legte sich deshalb lediglich darauf fest, in einem neuen Referendum die Menschen über einen neu ausgehandelten Austrittsvertrag entscheiden zu lassen. Zugleich setzte Labour-Spitzenkandidat Jeremy Corbyn darauf, andere Themen ins Zentrum der Kampagne zu rücken. Insbesondere mit durchaus radikalen Forderungen in der sozialen Frage konnte er zwar punkten, der Brexit blieb jedoch das dominierende Thema. Auch in vielen traditionellen Labour-Hochburgen konnten sich die Konservativen trotz teils offen neoliberaler Forderungen durchsetzen. Neben der massiven Medienkampagne gegen Corbyn dürfte auch die innere Spaltung von Labour und das bremsende bis gegensätzliche Verhalten des rechten Flügels gegen Corbyn dazu beigetragen haben.

Auch die Liberaldemokraten (LibDem) scheiterten im Übrigen. Nicht einmal deren Spitzenkandidatin Jo Swinson schaffte es, ihren Wahlkreis zu gewinnen. Die LibDem-Position, das Brexit-Referendum einfach zu missachten und den EU-Austritt abzusagen, verfing offenbar nicht.

Dass auch in Deutschland so manche der britischen Labour Party eine ähnliche Position nahegelegt hatten, zeigt mangelndes Verständnis der Stimmungen in Großbritannien. Denn auch wer den Brexit ablehnt, sollte anerkennen, dass er eine reale Basis hat. Und dies nicht allein aus irrationalen und absurden Gründen, wie häufig suggeriert wird. Darüber hinaus gibt es in Großbritannien auch viele Menschen, die 2016 zwar gegen den Brexit gestimmt haben, aber dennoch dafür eintreten, das Ergebnis des Referendums zu respektieren.

Großbritannien und EU müssen über Handelsbeziehungen verhandeln

Die Auswirkungen der jüngsten Wahlen dürften zu bedeutenden Veränderungen führen. Boris Johnson kann nun auf eine Parlamentsmehrheit für das Austrittsabkommen mit der EU zählen. Dann beginnt die nächste Phase: Großbritannien und die EU werden über ihr zukünftiges Verhältnis verhandeln müssen.

Zugleich werden sich die Fliehkräfte im Vereinigten Königreich verstärken. In Schottland hat die SNP über 80 Prozent der Mandate gewonnen. Die SNP-Vorsitzende und schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon verkündete unverzüglich nach der Wahl, ein zweites Unabhängigkeits-Referendum anzustreben. Boris Johnson habe zwar ein Mandat, England aus der EU zu führen, aber nicht Schottland. In Nordirland haben die pro-britischen Parteien erstmals die Mehrheit der Mandate verloren. Auch hier könnten sich nach Vollzug des Brexits neue Tendenzen entwickeln.

Für die Labour-Partei dürften nun turbulente Zeiten anstehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Partei es schafft, die inneren Konflikte zivilisiert auszutragen – und dass es ihr gelingen wird, den an den sozialen Interessen der Vielen orientierten Kurs fortzusetzen.

Erschienen auf linksfraktion.de am 13.12.2019