Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Lula das Silva lanciert eine Friedensinitiative zur Aufnahme von Verhandlungen

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko für Zeitgeschehen im Fokus (Originallink hier)

Zeitgeschehen im Fokus Die deutsche Aussenministerin Baerbock hat am 24. Januar eine Rede vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats in Strasbourg gehalten. Dort hat sie sich höchst problematisch geäussert. Können Sie kurz darüber berichten?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Die deutsche Aussenministerin hielt diese besagte Rede. Eigentlich ging es dabei um den vierten Gipfel des Europarats. Es gab bisher nur drei Gipfel auf Ebene der Staats- und Regierungschefs. Im Mai wird ein Gipfel in Reykjavik anvisiert. Es ging aber auch um den Ukraine-Krieg. Am Ende dieser Reden gibt es immer die Möglichkeit für die Abgeordneten, Fragen zu stellen. Dort fragte sie ein britischer Abgeordneter nach den Leopard-Panzerlieferungen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht freigegeben worden waren. Dafür hatte er sie scharf kritisiert. Darauf antwortete sie: «Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.» Das ist schon eine sehr ungeheuerliche Aussage für eine Aussenministerin, weil sie impliziert, dass sich die Länder des Europarats, damit auch Deutschland, formal im Krieg gegen Russland befinden.

Wie ist das zu bewerten?

Es ist de facto eine Kriegserklärung, vielleicht aus Versehen, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war es auch nicht bewusst, aber es entspricht wohl ihrem Denken. Das Auswärtige Amt musste zurückrudern, der deutsche Botschafter in Moskau wurde einbestellt. Ein Faux Pas erster Ordnung! Wenn es einen Rücktrittsgrund vom obersten diplomatischen Job eines Landes gibt, dann sicherlich so eine missverständliche Kriegserklärung. Das Ganze reiht sich ein in Aussagen, die nur noch peinlich sind. Wenn Annalena Baerbock nicht von ihrem Skript abliest, kommt oft Wirres über ihre Lippen. Ich erinnere nur an die «Panzerschlachten des 19. Jahrhunderts», an die Länder, die «Hunderttausende von Kilometern entfernt sind» oder die «deutsche Kolonialgeschichte in Nigeria». Das alles hat mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun. Aber bei dieser Aussage im Europarat kommt neben der Peinlichkeit noch eine gefährliche Komponente hinzu. Mit Kriegserklärungen spielt man nicht. Man wünscht sich einen Aussenminister oder eine Aussenministerin, die erst denken, bevor sie etwas sagen.

Wie hat die Aussenministerin darauf reagiert, nachdem diese Aussage Wellen geschlagen hat?

In den Mainstream-Medien gab es zunächst kaum eine Reaktion. Es gibt eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes, mit der versucht wird, das einigermassen wieder gerade zu biegen: Wir sind natürlich nicht im Krieg mit Russ­land. Aber sonst habe ich nicht viel gehört. Die Aussage wurde erst wahrgenommen, nachdem sie etliche soziale Medien aufgegriffen hatten, danach wurde sie in den Tageszeitungen erwähnt. Eine Stellungnahme von ihr selbst ist mir nicht bekannt. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums fragte auch: «Verstehen Sie selbst, wovon Sie da reden?»

Wie wurde es schliesslich zum Thema?

So richtig ging es in Deutschland erst am Donnerstag los. Am Dienstag hatte Annalena Baerbock diese Äusserung gemacht. Am Mittwoch kamen die ersten Meldungen, dass Olaf Scholz jetzt doch den Kampfpanzerlieferungen positiv gegenüberstehe. Das hat die ganze Auseinandersetzung sehr überlagert. Meines Wissens tauchte sie erst am Donnerstag vereinzelt in der deutschen Öffentlichkeit auf. Es war also kein grosses Thema. Das hängt auch damit zusammen, dass die Parlamentarische Versammlung des Europarats in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wird. Ob Annalena Baerbock sich verplappert hat oder ob das eine bewusste Äusserung war, sei einmal dahingestellt. Denken wird sie sicher so. Aber sie hat sich schon öfters hochnotpeinlich verplappert, auch als sie sagte: «Meine Wähler interessieren mich nicht». Offiziell aber hat sie diese Äusserung nicht zurückgenommen.

Sie haben schon gesagt, nur wenige Zeitungen hätten das aufgegriffen …

Ja, die beschäftigten sich vor allem damit, dass die Russen das jetzt propagandistisch ausschlachten. Am gleichen Tag kamen die ersten Meldungen vom «Spiegel», dass die Leopard-Panzerlieferungen jetzt von Olaf Scholz freigegeben werden. Vier Tage vorher war ein Treffen auf dem Militärstützpunkt der USA im deutschen Ramstein, das auf Einladung des US-Verteidigungsministers zustande gekommen war. Eigentlich ist man davon ausgegangen, dass schon dort Olaf Scholz und der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius grünes Licht für die Entsendung von Leopard-Kampfpanzern gäben. Das machten sie aber nicht.

Warum hat Scholz seine Meinung geändert?

Nach dem Treffen in Ramstein ist der Druck auf Scholz, vor allem medial, immer weiter aufgebaut worden. Am Dienstagabend, dem 24. Januar, kamen dann die ersten Meldungen, dass Leopard-Kampfpanzer doch zur Lieferung freigegeben würden.

Bemerkenswert ist etwas, was hierzulande kaum wahrgenommen wurde: Am Samstag, 21. Januar, einen Tag nach der Entscheidung in Ramstein, erst einmal keine Kampfpanzer zu liefern bzw. «das noch zu prüfen», gab es einen Leitartikel der gesamten Redaktion in der «Washington Post» mit dem Titel: «Germany is refusing to send Tanks to the Ukraine – Biden cannot let this stand» (Deutschland weigert sich, Panzer an die Ukraine zu schicken – Biden kann das nicht stehenlassen.). Das heisst doch nichts anderes: Man akzeptiert keine souveräne Entscheidung Deutschlands, und der Präsident hat in dem Sinne zu handeln. Das ist doch ungeheuerlich! Nur wenige Tage später kam die Entscheidung, doch Kampfpanzer zu liefern. Interessant ist dabei, dass die erste Meldung nicht offiziell von der Regierung kam. Am Dienstagabend setzten schon einflussreiche Medien das als Faktum, ohne dass es eine Verifizierung dessen gab, denn das Ganze bezog sich auf eine Vermutung des «Spiegels». Nur anderthalb Stunden vorher verschickte das Auswärtige Amt eine Sprachregelung an alle deutschen Diplomaten, dass in der Frage der Panzerlieferung «noch keine Entscheidung getroffen wurde». Am nächsten Tag verkündete dann Olaf Scholz auf einer Pressekonferenz den Entscheid zur Lieferung.

Was bedeutet dieser mediale Ablauf?

Die Medien versuchen, öffentlich Fakten zu schaffen, aus denen Scholz dann nicht mehr herauskommt. Das finde ich unglaublich, denn wir sprechen hier über eine Entscheidung von möglicherweise historischer Bedeutung. Es gab bisher schon viele Waffen, die der Ukraine geschickt wurden. Aber die Entsendung von Kampfpanzern löst sowohl in der russischen als auch in der deutschen Bevölkerung besondere Emotionen aus und ist militärisch nochmals von einer ganz anderen Qualität.

Inwiefern?

Mit der Entsendung der Leopard-Kampfpanzer entsteht bei sehr vielen Menschen eine Assoziation zu den Panzerschlachten vor 80 Jahren in der gleichen Region. Damals hiessen die Panzer der Wehrmacht Puma und Tiger, heute heissen sie Leopard, ebenfalls eine Raubkatze. Besonders in der russischen Bevölkerung weckt das starke Emotionen, weil die Sowjetunion mit 27 Millionen Toten, davon zum grössten Teil russische Soldaten, eine extrem hohe Zahl an Opfern während des Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte. Die Schlacht um Stalingrad, bei der die sowjetische Armee eine Million Soldaten verlor, das Aushungern von Leningrad mit über einer Million Opfer, die grosse Panzerschlacht bei Kursk, die nahezu eine Million Tote zurückliess, in der Mehrheit sowjetische Soldaten, ist im kollektiven Bewusstsein in ­Russland viel präsenter als zum Beispiel in Deutschland. Dass heute, 80 Jahre später, wieder deutsche Kampfpanzer in die gleiche Richtung unterwegs sind, führte dazu, dass sich in Russland auch die Kritiker Putins hinter ihn stellen.

Ich habe in einem Interview mit einer russischen Bürgerin gelesen: «In der Ukraine-Frage sind wir in der russischen Bevölkerung durchaus gespalten gewesen. Es gab keine Jubelstimmung, als am 24. Februar Kiew angegriffen wurde. Es gab sehr viel Skepsis und Antikriegsproteste. Auch einzelne Abgeordnete haben das öffentlich kritisiert.» Meines Erachtens repräsentiert das die Stimmung in der Bevölkerung ganz gut.

Aber die Entsendung deutscher Kampfpanzer gegen Russland, das wird die Bevölkerung komplett einen und eine Opferbereitschaft erzeugen, dagegen vorzugehen. Die Bevölkerung wird sich noch verstärkter hinter die russische Kriegsführung und hinter Putin stellen. Das ist für die Menschen in Russland verständlicherweise sehr emotional besetzt. Diese Wirkung auf die russische Bevölkerung ist auch ein Aspekt dieser historischen Fehlentscheidung, deren Konsequenzen wir bis heute noch gar nicht absehen können.

Wie ist denn die Stimmung in Deutschland bezüglich dieser Entscheidung?

Es ist auch hier, vielleicht nicht so stark wie in Russland, emotional besetzt. In den letzten Tagen habe ich als Abgeordneter vermehrt E-Mails bekommen, die von allergrösster Sorge geprägt waren, was diesen Entscheid betrifft. Es gab schon immer Menschen, die die Waffenlieferungen kritisiert haben. Aber auch emotional ist das ein qualitativer Sprung. Die Leopard-Panzer sind letztlich auch Angriffswaffen. 

Gab es öffentliche Reaktionen in der Bevölkerung?

Es hat in verschiedenen Städten Protestkundgebungen gegeben, auch in meiner Heimatstadt Aachen, die grösser waren als die vorhergegangenen. Dieser Entscheid mobilisiert mehr Menschen. Wenn man die Umfragen anschaut, dann sieht man, dass die Bevölkerung in Deutschland gespalten ist, also fifty-fifty. Wenn man die Umfrage nach Parteiorientierung anschaut, dann gehen die Meinungen ganz massiv auseinander. Und die mit grossem Abstand kriegerischste Partei, nicht nur in der Führung, sondern auch in ihrer Wählerschaft, sind die Grünen. Das ist frappierend. Über 80 % stimmen zu, dass Deutschland Kampfpanzer und sogar Kampfjets der Ukraine zur Verfügung stellen sollen. Aber sowohl Kampfpanzer als auch Kampfflugzeuge würden zu einer massiven Eskalation führen.

Wie sieht es bei den anderen Parteien aus?

Die SPD-Wähler, das sind Wähler der Kanzlerpartei, sind gespalten, bei FDP und CDU ist eine deutliche Mehrheit dafür, bei der LINKEN und der AfD sind es 80 %, die dagegen sind. Es ist sehr interessant, wie weit das auseinandergeht.

Was wir gegenwärtig beobachten, kann einen fast verzweifeln lassen: Viele Menschen reagieren entlang eines moralischen gut-böse-Schemas. Eine Handlung – etwa Kampfpanzer zu liefern – wird nicht mehr nach ihren Konsequenzen beurteilt, sondern nach dem moralischen Motiv dieser Handlung. Früher wurde von Verantwortungsethik und Gesinnungsethik gesprochen. Eine aussenpolitische Handlung ist nicht mehr abzulehnen, weil sie zu katastrophalen Folgen führt, sondern sie ist gut, weil sie eine moralisch überlegene Position beinhaltet, in diesem Fall die Solidarität mit der Ukraine. Das ist etwas im Bewertungssystem auch vieler junger Menschen, das sich dahingehend verändert hat, dass nur noch wichtig ist, wie ich mich selbst dabei fühle und es eine moralisch gute Sache ist. Deshalb ist es eine gute Sache, die Ukraine zu unterstützen, es ist eine schlechte Sache, das nicht zu tun. Die Abwägung der Realität, was daraus für Konsequenzen entstehen, spielt fast keine Rolle in der Bewertung. Das ist ein Phänomen, das ich in dieser Massivität noch nie erlebt habe.

Was moralisch richtig ist, wird doch den Menschen durch die Medien und durch ständige Manipulation vermittelt?

Ja, selbstverständlich, da ist viel Medienmanipulation. Es wird mittlerweile auch die ganze Geschichte des Zweiten Weltkriegs verdreht. Wir hatten am 27. Januar im Bundestag wie jedes Jahr eine Gedenkstunde zur Auschwitzbefreiung. Das war in weiten Teilen eine gute Veranstaltung, die mich auch menschlich berührt hat. Dieses Mal stand im Vordergrund, dass auch Menschen mit anderer sexueller Orientierung oder sogenannte Asoziale ebenso wie Jüdinnen und Juden verfolgt und in den KZs ermordet wurden. Dennoch wurde in dem ganzen Framing, wie man auf Neudeutsch sagt, der Eindruck erweckt, dass der Zweite Weltkrieg Deutschlands, der Wehrmacht, damals primär gegen die Ukraine ging. Die russischen Opfer und die Rote Armee wurden ausgeblendet. Auschwitz wurde irgendwie befreit, aber von wem, das wurde nicht erwähnt. Es findet eine systematische Geschichtsverdrehung statt, die den Eindruck erweckt, der heutige Hitler heisse Putin. Hitler hätte damals die Ukraine angegriffen, und jetzt mache das Putin. So etwas war zwar nur in Nebensätzen formuliert, aber es war wahrnehmbar. Das ist unglaublich. Das Geschichtsbild wird der aktuellen geopolitischen Konstellation angepasst.

Scholz tingelt durch die Welt und erklärt überall, dass Deutschland nicht im Krieg sei und die Panzerlieferungen auch nicht dazu führten

Sie liefern nicht nur Panzer, sie bilden auch ukrainische Soldaten in Deutschland am Leopard-Panzer aus. Völkerrechtlich sagt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages auf Anfrage der LINKEN, dass damit die Bundesrepublik Deutschland den «gesicherten Bereich der Nicht-Kriegsführung» verlässt. Also, wir befinden uns in einer völkerrechtlichen Grauzone, ob wir Kriegspartei sind oder nicht. Und trotzdem machen sie weiter.

Selenskij hat ja bereits Kampfflugzeuge und Kriegsschiffe verlangt

Unmittelbar nach der Entscheidung zur Panzerlieferung kam ein kurzer Dank Selenskijs und dann sofort die Forderung nach Kriegsschiffen, Kampfflugzeugen und Raketen. Es ist eine sich immer weiter vollziehende Eskalationsspirale. Die Russen haben auch viel Eskalationspotential. Nach meiner Einschätzung trifft das Ziel, die Krim zurückzuerobern, den russischen Nerv, der das Ganze noch viel weiter eskalieren würde. Was den Donbas anbetrifft, ist das nicht das absolut vitale Interesse von russischer Seite. Die Krim wird Russ­land jedoch nicht freiwillig zurückgeben. Dort liegt die Schwarzmeerflotte, und zwar seit dem 18. Jahrhundert.

Ist nicht die Mehrheit der Bewohner der Krim russischstämmig?

Ja, der Grossteil der Bevölkerung ist russisch, im Unterschied zum Donbas, indem es mehrschichtiger ist. In keinem Fall wäre die grosse Mehrheit der Krim-Bewohner bereit, sich Kiew wieder unterzuordnen. Eine ukrainische Rückeroberung der Krim würde zwangsläufig eine Vertreibung von mindestens einer Million der russischen Bevölkerung bedeuten. In der öffentlichen Diskussion wird das komplett ausgeblendet. Da gibt es tatsächlich Überlegungen, und dazu habe ich Annalena Baerbock vor anderthalb Wochen im Bundestag im Ausschuss gefragt, was die territoriale Begrenzung bei Panzerlieferungen sei. Es gibt bei solchen Lieferungen immer Verträge für den geografischen Verwendungszweck, also wo der Panzer eingesetzt werden darf. Nach diesen Kriterien dürfte russisches Militär auf russischem Territorium nicht angegriffen werden. Das ist die offizielle Position zurzeit: Die Panzer dürfen auf allen Gebieten operieren, die völkerrechtlich zur Ukraine gehören. Damit ist die Krim explizit impliziert. Es geht nicht nur um die Rückeroberung des Donbas, sondern auch um die Rückeroberung der Krim. Annalena Baerbock hat noch angefügt, dass der Einsatz dieser Panzer auf russischem Territorium ausgeschlossen sei. Das sei die offizielle Position der deutschen Regierung, aber sie hat durchblicken lassen, dass sie das für falsch hält, da auch russische Stellungen hinter der Grenze ein Problem seien. Das ist eine Position, die meines Wissens Olaf Scholz bisher nicht teilt. Damit gehört Annalena Baerbock ganz klar zum kriegstreibenden Flügel innerhalb der Bundesregierung. Olaf Scholz gehört eher zu den Zurückhaltenderen in der Auseinandersetzung. Zum aggressivsten Flügel gehört neben der Aussenministerin Baerbock auch die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Strack-Zimmermann.

Wie hat man Scholz in Ramstein unter Druck gesetzt?

Das lief auf vielen Ebenen. Die Medien, genauer gesagt die transatlantischen Netzwerke, haben die Stimmung in die Richtung immer weiter aufgebaut. Scholz hat auch nicht grundsätzlich nein gesagt, sondern den Standpunkt vertreten, dass er liefern würde, wenn die Bündnispartner das auch tun würden und die USA Abrams-Panzer zur Verfügung stellen würden. Da gibt es jetzt ein symbolisches Zugeständnis, dass auch einzelne Abrams geliefert würden, was wahrscheinlich Jahre dauern wird, bis sie dort ankommen. Aber scheinbar hat er etwas erreicht, was er nach aussen verkaufen kann. Jetzt kann er sagen: Ich bin doch gar nicht der Zauderer, ich habe nur ein breiteres Bündnis im Westen hergestellt. Das kann er dem kriegsbefürwortenden Teil der deutschen Öffentlichkeit als diplomatische Klugheit darstellen. Welche «Instrumente» ihm noch gezeigt wurden oder ob er «Leichen im Keller» hat, die man herausholt, das ist natürlich Spekulation. Später wird vielleicht einmal Wikileaks oder eine Nachfolgeorganisation die Korrespondenz dieser wichtigen Schlüsseltage ans Licht bringen. Aber bis jetzt wäre es reine Spekulation.

Gibt es eine logische Erklärung, warum Biden die Abrams nicht liefern wollte, aber verlangte, dass die Deutschen den Leopard-Panzer liefern?

Die offizielle Begründung lautet, es sei logistisch unglaublich kompliziert, angefangen beim Treibstoff bis hin zu anderen logistischen Problemen, so dass es sehr schwierig sei und sehr lange dauern würde. Schwierig wäre auch die Wartung der Panzer im Einsatz sowie die Nachschub- und Versorgungswege. Mit dem Leopard-Panzer sei das viel einfacher. Das waren die offiziellen Begründungen von der US-Seite, aber sicherlich steckt auch ein geopolitisches Motiv dahinter; denn es ist die US-Strategie, schon seit hundert Jahren darauf hinzuwirken, Deutschland und Russland gegeneinander in Stellung zu bringen und eine enge Kooperation zu verhindern. Eine solche Kooperation würde weltweit die US-Hegemonie in Frage stellen. Die Entscheidung, Leopard-Panzer zu entsenden, wird eine langandauernde Wirkung entfalten und zu einer Vergiftung der Beziehungen und zu einer erheblichen Erschwerung jedweder Kooperation führen, genauso wie die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines.Von daher ist es die US-Strategie, Deutschland immer weiter in den Krieg zu drängen.

Was sich im Moment abspielt, ist nur noch finster, und man fragt sich, wo das Gegengift bleibt.

Das gibt es. Grosse Teile der Welt haben einen ganz anderen Blick auf den Krieg. Ich habe mich im letzten halben Jahr – Ihre Zeitschrift hat darüber berichtet – mit Kolumbien und Brasilien beschäftigt und grossen Wert auf die Wahlen in den beiden Ländern gelegt. Was hier im Westen kaum berichtet wird, ist, dass Deutschland an Lateinamerikanische Länder Anfragen geschickt hat, ob sie auch Waffen für die Ukraine lieferten. Sowohl Lula da Silva in Brasilien als auch Gustavo Petro in Kolumbien haben ihr Veto eingelegt. Argentinien und Chile auch. Im Falle Brasiliens ging es um Munition, die Brasilien liefern sollte, aber Lula da Silva hat das mit der Begründung abgelehnt, in diesem Krieg neutral bleiben zu wollen, um einen internationalen Friedensblock, auch unter Einbeziehung Chinas zu schmieden. Ich finde, das ist ein Vorbild, an dem sich europäische Staaten ein Beispiel nehmen könnten. Brasilien steht hier stellvertretend für grosse Teile Lateinamerikas, Afrikas und Südostasiens. Das zeigt, dass in diesen Regionen der Blick auf diesen Krieg ein völlig anderer ist als aus der Blase, in der wir auch durch unsere Medien gehalten werden.

In diesem Zusammenhang stand also der Besuch von Olaf Scholz in Brasilien?

Ja, auch. Es gibt in der EU eine sogenannte «Global Outreach Strategy», also ein globales Ausgreifen der EU mit dem Ziel, Schlüsselländer weltweit auch in der Frage des Krieges in der Ukraine weiter ins westliche Lager zu ziehen. Es gab eine lange Diskussion unter den Strategen der EU, welches diese Schlüsselländer seien. Man hat jetzt fünf Länder identifiziert: Dazu gehören Brasilien, Nigeria, wo im Februar Wahlen stattfinden, Indien, Ägypten und Kasachstan. Das sind die Länder aus EU-Sicht, wo es die Hoffnung gibt, sie ins westliche Lager, zumindest in punkto Sanktionen, ziehen zu können, und die eine grosse regionale Bedeutung haben. Brasilien hat in Bezug auf den Krieg und Waffenlieferungen Olaf Scholz eine klare Absage erteilt, auch an Nigeria und Indien wird sich die EU wohl die Zähne ausbeissen. Wie sich Ägypten und Kasachstan verhalten werden, weiss ich nicht. Interessant ist, dass die EU bestrebt ist, den Nato-Kurs politisch zu flankieren und in diesem Krieg immer mehr zum verlängerten Arm der Nato wird. Die EU versucht die ganze Welt gegen Russland aufzubringen, und die genannten Länder sollen dabei eine Schlüsselrolle spielen. Positiv dabei ist, dass ein G20-Land, wie Brasilien dabei nicht mitmacht und einen Kurs auf eine diplomatische Lösung zur Kriegsbeendigung fährt. Das macht Hoffnung.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser

 

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko