Von Lenny Reimann, Essen, in junge Welt vom 22.03.2010

Etwa 6000 Demonstranten haben am Sonnabend im nord­rhein-westfälischen Essen eine Wende in der Sozialpolitik und die Abschaffung der Hartz-IV-Gesetze gefordert. Zu der Demonstration, die unter dem Motto »Wir zahlen nicht für eure Krise!« stand, hatten verschiedene Gewerkschaftsgliederungen, Sozialinitiativen, Linkspartei, DKP, Antifa-und Erwerbslosengruppen aufgerufen. In Stuttgart nahmen am selben Tag rund 2500 Personen an einer Kundgebung unter dem gleichen Motto teil.

Der Protest richtete sich in Essen vor allem gegen die aus CDU und FDP bestehende Landesregierung in Düsseldorf. Zu ihnen sprachen u.a. der Linksparteivorsitzende von Nordrhein-Westfalen Wolfgang Zimmermann sowie Martin Behrsing vom Erwerbslosen Forum Deutschland. Gabriele Schmidt, NRW-Bezirksleiterin der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, bezeichnete die »schwarz-gelbe« Wirtschafts- und Sozialpolitik auf Landesebene als »schamloses Programm zur Förderung von Hire and Fire«. Die Demonstranten forderten, die 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und einen gesetzlichen Mindestlohn von zehn Euro. Ein Sprecher der »Roten Antifa Duisburg« verlangte den sofortigen Abzug aller deutschen Truppen aus dem Ausland. Die Forderungen eines »Bildungsstreik-Blocks« von Studierenden und Schülern lauteten: Abschaffung von Studiengebühren, Reform des Bachelor/Master-Studiensystems sowie die generelle Einführung der Gemeinschaftsschule.


Während der Demonstration griff die Polizei mehrfach ohne ersichtlichen Anlaß gewaltsam ein und nahm etwa ein halbes Dutzend Personen fest. Zu brutalen Übergriffen der Einsatzkräfte kam es, als Neonazis wiederholt auf der Abschlußkundgebung provozierten. Anstatt die Rechtsextremen abzudrängen, schlugen die Polizisten einen erst 15jährigen Nazigegner nieder und nahmen ihn fest. Eine Zivilbeamtin, die sich zuvor als Demonstratin ausgegeben hatte, schlug auf Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linken, ein und verletzte diese leicht. Zuvor bezeichnete sie Dagdelen als »dumme Sau«. Die Politikerin erstattete Strafanzeige wegen Beleidigung und Körperverletzung im Amt und forderte die Einsatzleitung auf, ihr den Namen der Gewalttäterin mitzuteilen. Die Beamten verweigerten dies jedoch aus »polizeitaktischen Gründen«. Auch der linke Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko sowie Journalisten wurden von den Polizeibeamten körperlich bedrängt.

Kurz vor Ende der Abschlußkundgebung kesselte die Polizei einen Informationsstand der KPD/Roter Morgen ein, beschlagnahmte Informationsmaterial und erstattete Strafanzeigen gegen Personen, die sich in der Nähe aufhielten. Der Vorwurf: Verstoß gegen das KPD-Verbot von 1956. Gegenüber jW erklärte Hunko am Sonntag: »Ich habe schon viele Demonstrationen erlebt, auf denen es zu Übergriffen der Polizei gekommen ist. Daß aber ein Bücherstand ohne klare Rechtsgrundlage eingekesselt wurde, um Materialien zu beschlagnahmen, daß eine Bundestagsabgeordnete geschlagen wurde und daß einzelne Demonstrationsteilnehmer zur Ausweiskontrolle eine halbe Stunde eingekesselt wurden, stellt für mich ein Novum dar.«

Trotz der rüden Polizeiattacken zog das Bündnis »Wir zahlen nicht für eure Krise« am Sonntag eine positive Bilanz. »Wir haben es geschafft, einen gesamtgesellschaftlichen Protest auf die Beine zu stellen – wir lassen uns nicht länger spalten in Arbeitende und Erwerbslose, Erwachsene und Jugendliche oder Deutsche und Ausländer«, so Bündnissprecher Klaus Stein und kündigte weitere Proteste an.