Die Rede am 16. Mai auf der Kundgebung "Die Gedanken sind frei" in Aachen hat medial hohe Wellen geschlagen. In manchen Artikeln wurde diffamierend unterstellt, es habe sich um eine "Querfront"-Veranstaltung mit Neonazis gehandelt. Dies ist eine Falschinformation. Die Kundgebung war das Ergebnis einer politischen Ausdifferenzierung. In Aachen hatte es an diesem Samstag gleich drei Kundgebungen zur Corona-Politik gegeben. Eine war der rechten Ecke zuzurechnen, von der AfD organisiert, die zweite dem esoterischen Lager und die dritte dem Mitte-Links-Spektrum. Im Folgenden findet sich ein Interview über die Vorwürfe, das der Journalist Ralf Wurzbacher für die Website "Nachdenkseiten" mit Andrej Hunko geführt hat. 

Die Linke und die Pandemie: „Die konsequenteste Lockdown-Partei?“

Der stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Andrej Hunko, hat es gewagt, auf einer Demonstration gegen die Einschränkung von Grundrechten in der Corona-Krise als Redner aufzutreten. Dafür bezog er heftige Prügel – nicht durch die Polizei, sondern durch seine Genossen. Sein Bundesvorstandskollege Frank Tempel legte ihm den Rücktritt nahe, Parteichefin Katja Kipping zieh ihn einen Vertreter der „Lockerungslobby“. Vor dieser und einer zweiten Welle gelte es die Armen und Schwachen zu schützen, meint sie. Der Attackierte nennt das im Interview mit den NachDenkSeiten eine „sehr einseitige Sicht der Dinge“. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Herr Hunko, Sie haben sich aus Sicht Ihrer Parteiführung einen schlimmen Fehltritt geleistet: Am vergangenen Samstag waren Sie in Aachen bei der Corona-Demonstration „Kritische Aachener BürgerInnen zum Erhalt der Grundrechte“ als Redner aufgetreten und haben sich dabei als Kritiker des Krisenmanagements der Bundesregierung hervorgetan. Für Ihre Parteichefin Katja Kipping sind Sie damit ein Protagonist der „Lockerungslobby“, die Deutschland in eine „zweite Infektionswelle“ führt. Fühlen Sie sich schuldig?

Die Kundgebung, auf der ich gesprochen habe, war das Ergebnis einer politischen Ausdifferenzierung. In Aachen hatte es an diesem Samstag gleich drei Kundgebungen zur Corona-Politik gegeben. Eine war der rechten Ecke zuzurechnen, von der AfD organisiert, die zweite dem esoterischen Lager und die dritte, auf der ich aufgetreten bin, dem Mitte-Links-Spektrum. Das, worum es dort ging, ist nicht einfach mit den Kategorien „Lockerung oder nicht“ zu fassen. Wer meine Rede liest, erkennt, dass es im Wesentlichen um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung und ihrer Berater sowie den vorgenommenen und möglicherweise noch drohenden Grundrechtsbeschränkungen ging. Keinesfalls war das bloß ein Aufruf zu Lockerungen. Zum Beispiel habe ich die Regierung auch dafür kritisiert, dass bis Anfang März eher verharmlosend auf die sich abzeichnende Krise reagiert wurde – dann aber mit sehr weitreichenden und, wie ich finde, teilweise überzogenen Eingriffen in die bestehenden Grundrechte.

Laut Frau Kipping sind die sogenannten Hygiene-Demos – und darunter subsumiert sie alle Corona-Demonstrationen – kein Protest gegen die Obrigkeit, sondern dienten der Verharmlosung und wären deshalb „rücksichtslos gegenüber sozial Schwachen und verletzlichen Teilen der Bevölkerung“. Durchschauen Sie diese Logik?

Das ist eine sehr einseitige Sicht. Auf unserer Kundgebung waren ärmere und verletzliche Teile der Bevölkerung definitiv überrepräsentiert. Viele kannte ich von meinem Engagement gegen die Hartz-IV-Gesetze. Andere waren dort, weil sie ihre Angehörigen nicht besuchen dürfen oder weil sie dringende medizinische Behandlungen verschieben mussten. Wenn wir über Schutz der Schwachen reden, müssen wir doch das ganze Bild sehen, nicht nur die Corona-Gefahr.

Aber ich verstehe, was damit gemeint ist. Viele versuchen die Verantwortung für ein mögliches Wiederaufflackern der Infektionszahlen auf die Bevölkerung abzuwälzen: Sollte es dazu kommen, wären „rücksichtslose Demonstrationen“ oder mangelndes „Social Distancing“ verantwortlich. Man denke an die Diskussion von vor zwei Wochen, als die Reproduktionszahl kurzfristig auf über 1 geschätzt wurde. Das wurde mithin in direkten Zusammenhang mit den Demonstrationen gebracht, obwohl es dafür keinen belastbaren Hinweis gab. Die größten Ausbrüche haben wir gegenwärtig aber in Einrichtungen, in denen Lebens- und Arbeitsbedingungen eine entscheidende Rolle spielen. Etwa durch die unfassbaren Zuständen in den Schlachthöfen, in Asylbewerberheimen oder auch in Alten- und Pflegeheimen.

Sie haben also keine Sorge, dass eine zweite Welle im Anmarsch ist?

Niemand kann das völlig ausschließen. Ich sehe momentan aber keine plausiblen Hinweise dafür. Dagegen spricht sowohl das stark rückläufige Infektionsgeschehen in den vergangenen Wochen als auch die Ausbreitungsdynamik, wie man sie von anderen Coronaviren kennt. Wahrscheinlicher ist es, dass das Virus immer mal wieder regional und unter bestimmten sozialen Rahmenbedingungen in Erscheinung tritt. Deshalb finde ich die Regelung, lokale Grenzwerte bei den Neuinfektionen zu setzen, durchaus erst einmal richtig. Allerdings sollte man das an eine bestimmte Mindestzahl an Tests koppeln, weil sonst falsche Anreize für die Landkreise entstehen, möglichst wenig zu testen.

Wer darauf hinweist, dass Coronaviren schon immer Teil des saisonalen Grippegeschehens waren, landet heute schnell in der Schublade der sogenannten Verharmloser. Sie bleiben trotzdem dabei, dass hier Analogien bestehen?

SARS-CoV-2 ist definitiv gefährlicher und im Erkrankungsfall tödlicher als die bisher bekannten Coronaviren. Im Unterschied zu Jens Spahn habe ich auch nie davon gesprochen, dass Covid-19 „deutlich milder“ als eine normale Grippe sei. Gleichwohl weisen Epidemiologen darauf hin, dass der Verlauf des Infektionsgeschehens dem bekannter Corona-Viren entsprechen könnte, etwa auch Ulrich Keil auf den NachDenkSeiten.

Der Flensburger Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg war der erste, der offen auf solche Zusammenhänge hingewiesen hat. Dafür haben ihn die Massenmedien mit einer massiven Rufmordkampagne überzogen. Warum scheuen Sie sich nicht, seinen Namen in den Mund zu nehmen?

Ich habe mit Wolfgang Wodarg im Untersuchungsausschuss des Europarates zur Schweinegrippe zusammengearbeitet, von der sich herausstellte, dass die Szenarien völlig übertrieben waren und daran vor allem die Pharmaindustrie verdient hat. Wolfgang Wodarg lag damals richtig. Mit Corona haben wir aber eine andere Situation. In meiner Rede in Aachen habe ich angedeutet, dass ich seine Einschätzung der aktuellen Pandemie nicht teile. Er hat sich nach meiner Auffassung zu früh mit Festlegungen hervorgetan, die sich dann später als der Lage nicht angemessen herausstellten.

Dennoch müssen solche Sichtweisen Teil des öffentlichen Diskurses sein, nicht nur in sozialen Netzwerken. Das ist es ja, was mich stört: Dass in der Corona-Krise eine relevante und gewichtige Minderheit von Experten und mit ihnen ein gar nicht mal so kleiner Teil der Bevölkerung verunglimpft und aus der öffentlichen Debatte ausgegrenzt wurden. Wenn sich Thesen als falsch herausstellen, sollten sie ruhig und sachlich widerlegt werden. Und es sollten viel mehr Fachleute aus der Epidemiologie, der Klinik oder der Sozialpsychologie zur Bewertung der Situation zu Wort kommen. Zur Wissenschaft gehört auch die Einbeziehung unterschiedlicher Sichtweisen. Das ist der Unterschied zur Klimadebatte, in der der wissenschaftliche Diskurs viel eindeutiger ist und nur eine extreme Minderheit widerspricht.

Sie sind durch Ihren Auftritt in Aachen selbst in die Schusslinie geraten. Von praktisch allen namhaften Größen ihrer Partei heißt es jetzt, man dürfe sich als LINKE-Politiker nicht auf solchen Corona-Demonstrationen blicken lassen. Frank Tempel aus dem Bundesvorstand hat Ihnen in der Zeitung „Die Welt“ sogar den Rücktritt nahegelegt. „Zeit, in Rente zu gehen, Genosse Hunko. Corona scheint auch manchen Geist zu verwirren.“ Der Bundestagsabgeordnete Lorenz Gösta Beutin sagte dem Berliner „Tagesspiegel“: „Linke demonstrieren nicht mit Verschwörungsanhängern, Neonazis und Demokratiefeinden, sondern gegen sie.“ Haben Sie mit derlei Reaktionen gerechnet?

Wir hatten eine gute Diskussion in der Bundestagsfraktion mit der Tendenz, viele der Sorgen, die jetzt zum Ausdruck kommen, ernst zu nehmen, sich an den samstäglichen Demonstrationen aber nicht zu beteiligen. Ich habe die Veranstaltung in Aachen als Sondersituation gesehen. Organisiert hatte sie der linke Aktivist Walter Schumacher, der maßgeblich die hiesige Tihange-Bewegung gegen das marode belgische Atomkraftwerk aufgebaut hatte. Nun wird ja überall vor der Vereinnahmung durch rechte Kreise gewarnt. Wenn sich aber doch vor Ort die Gelegenheit ergibt, Menschen aus dem linken Spektrum und der politischen Mitte anzusprechen, die sich vor allem gegen die starken Grundrechtseingriffe zur Wehr setzen und vor den drohenden sozialen Folgen des Lockdowns warnen, dann sollte man diese meines Erachtens ergreifen. Es kann nicht Sinn der Sache sein, diese Menschen allesamt als Spinner, Impfgegner oder Rechtsextremisten zu diffamieren und so zu tun, als gäbe es in Sachen Corona nur schwarz und weiß.

Warum hat man von Ihrer Partei über Wochen und Monate kaum ein kritisches Wort zum Krisenmanagement der Bundesregierung beziehungsweise ihrer wissenschaftlichen Berater vom Robert Koch-Institut (RKI) gehört?

Das ist eine falsche Wahrnehmung. Wir waren im Bundestag Ende März gegen die Änderung des Paragraphen 28 der ersten Novelle des Infektionsschutzgesetzes, die die Grundlage vieler Grundrechtseinschränkungen ist. Wir haben uns bei der Gesamtvorlage enthalten, weil da auch dringend notwendige Dinge drin waren, wie etwa die Beschaffung von Atemmasken. Die zweite Novelle im Mai haben wir abgelehnt. Gegen den dortigen ursprünglichen Versuch, einen Immunitätsausweis einzuführen, der breit an Grundrechte gekoppelt war, hat unser Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch als einer der ersten die Stimme erhoben. Der Passus wurde schließlich zurückgezogen.

Gleichwohl ist es in der unübersichtlichen Situation im März, in der die Tragweite der Pandemie nicht absehbar und schnelle Handlungsfähigkeit notwendig war, nicht die Aufgabe der Opposition, alles zu blockieren. Deshalb haben wir etwa der Aussetzung der Schuldenbremse zugestimmt, die die Grundlage der verschiedenen Hilfspakete war. Aber es ist richtig, dass das alles nicht so breit wahrgenommen wurde.

Gleichwohl blieb der Eindruck einer praktisch paralysierten Opposition, gerade in den ersten Wochen der Krise. Sie selbst haben öffentlich moniert, es sei „völlig falsch“, wenn sich die Linke „als konsequenteste Lockdown-Partei positioniert“. Wie hätte sich die Partei anders positionieren können?

Wie gesagt, im März war es notwendig, auch mit weitreichenden Maßnahmen zu reagieren. Jeder Staat, auch eine linke Regierung, hätte das gemacht. Das hab ich auch auf der Kundgebung in Aachen gesagt. Nach meiner Ansicht wurde in Deutschland sogar zu spät reagiert, die ganzen Probleme bei der Beschaffung der Atemmasken zeigen beispielhaft, wie unvorbereitet die Bundesregierung war. Wichtig ist aber auch die Verhältnismäßigkeit, die Zielgenauigkeit der Maßnahmen, die maximale Verbesserung der Datenbasis, die Transparenz dieser Daten. Hier sollte die Kritik ansetzen.

Fahren Sie fort …

Mein Vorbild in dieser Beziehung ist Island, das eine linke Gesundheitsministerin und Ministerpräsidentin hat. Auch wenn das kleine Land nur begrenzt mit einem 80-Millionen-Staat vergleichbar ist, so ist doch zumindest die Methodik vergleichbar: Man war dort vorbereitet, hat schon im Januar reagiert, im Februar auf breite Tests gesetzt, frühzeitig vor der Situation in Ischgl gewarnt, systematische Zufallstestungen durchgeführt, alles täglich transparent dargestellt. Dafür brauchte man dann in der Hochphase im März nicht so weitreichende Einschränkungen wie hierzulande. Grundschulen sind dort nie ganz geschlossen worden, die wichtigsten Wirtschaftszweige wie Fisch, Geothermie und Aluminium liefen weiter, eine Maskenpflicht gab es nie. Heute hat Island die Corona-Welle weitestgehend überwunden, bei wesentlich geringeren gesellschaftlichen Kollateralschäden.

Hätte man so einen Kurs nicht auch hierzulande als linke Partei anregen können?

Das hat sich ja erst im Laufe der Zeit so herausgestellt. Die Position jedenfalls, sich als konsequenteste Lockdown-Partei zu positionieren, ist nirgendwo beschlossen worden. Sie basiert auf einer schematischen Vorstellung, Lockerung sei wirtschaftsgetrieben und damit rechts, der Status quo sei technokratisch und die linke Position müsse es sein, durch konsequenten Lockdown die Reproduktionszahl unter 0,5 zu drücken. Ich halte das in der Schematik in der Tat für keine sinnvolle linke Positionierung.

Was missfällt Ihnen an der Linie der Regierungsberater, vorneweg des „Chefvirologen“ Christian Drosten von der Berliner Charité und des RKI?

Bis heute gibt es keine Bemühungen für eine repräsentative Stichprobentestung. Man braucht dafür etwa 15.000 Tests, das ist ein kleiner Bruchteil der freien Testkapazitäten. Gegenwärtig ist eine Kohortentestung geplant, das ist zwar auch sinnvoll, aber nicht in regelmäßigen Abständen, etwa monatlich, wiederholbar. Genau das wäre nach meinem Dafürhalten aber notwendig, um das Infektionsgeschehen in der Breite und regelmäßig verfolgen zu können, auch mit Blick auf eine mögliche zweite Welle oder eine Mutation des Erregers im nächsten Winter.

Schleierhaft war für mich auch die RKI-Empfehlung, nicht zu obduzieren. Dabei lässt sich in Zweifelsfällen nur so die konkrete Todesursache feststellen und klären, ob ein Opfer „an“ oder aufgrund von Vorerkrankungen „mit“ Covid-19 verstorben ist. Außerdem gewinnt man mit Obduktionen wichtige Erkenntnisse zum Krankheitsverlauf, die dann für die Therapie der Erkrankten wichtig ist. Erst auf Protest von Pathologenverbänden wurde die fragliche Empfehlung wieder zurückgenommen. Ich habe wegen solcher Ungereimtheiten immer wieder im Bundestag nachgefragt, war aber einer der wenigen.

Warum ist das so?

Auf uns als kleine Oppositionsfraktion sind in der Krise auf einmal sehr viele Fragen und Probleme eingestürzt, die allesamt sehr wichtig sind. Das alles unter parlamentarisch sehr eingeschränkten Bedingungen. Insbesondere betrifft das die vielen sozialen Verwerfungen, die mit dem Lockdown einhergegangen sind und noch bevorstehen. Zu fragen ist etwa, ob die ganzen Hilfspakete wirklich bei den Leidtragenden ankommen, welche Gruppen „übersehen“ wurden, in welchem Maß die Hilfen ankommen und ob nicht wieder Banken und große Konzerne einseitig begünstigt werden. Und auch die skandalöse Privatisierung des Gesundheitswesens haben wir immer wieder thematisiert. Das sind alles Themen, auf die sich die Partei und die Fraktionen in Bund und Ländern zu Recht konzentrieren und die viele Kapazitäten binden.

Die sozialen Verwerfungen hätten womöglich geringer ausfallen können, wäre die Bundesregierung schon früher wegen der Defizite ihrer Krisenpolitik und -kommunikation unter Druck geraten. Sehen Sie das auch so?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Nicht bloß die LINKE, sondern viele andere gesellschaftliche Milieus sind derzeit in der Corona-Frage ziemlich gespalten. Die Auseinandersetzungen sind dabei in Teilen sehr scharf und angstgetrieben, weil einerseits weiter Angst vor dem Ausbruch einer zweiten Welle herrscht und andererseits große Sorgen wegen der weitreichenden Grundrechtseinschränkungen und der sozialen Folgen bestehen. Angstgetriebene Diskussionen sind immer sehr emotionalisiert und polarisiert. Der Widerspruch zeigt sich nach Umfragen auch bei unseren Anhängern: 58 Prozent haben demnach Angst vor längerfristigen Eingriffen in die Grundrechte. Zugleich heißen aber 60 Prozent das Krisenmanagement der Regierung gut. Als Partei muss man solche Stimmungen ernst nehmen.

Was, wenn sich am Ende herausstellt, dass die durch den Lockdown herbeigeführten Schäden und Opfer den Nutzen der Maßnahmen, auch was die Zahl der geretteten Leben angeht, deutlich übersteigen?

Das kann heute niemand wirklich sicher einschätzen. Ob die Kontaktsperren, die Verschiebung von Operationen, die Verluste an Arbeitsplätzen, die innerfamiliären Nöte durch Kita- und Schulschließungen am Ende zu größerem Leid und mehr Toten führen, ist alles noch nicht absehbar. Ich fordere insbesondere, dass darüber offen diskutiert wird, dass dies auch evaluiert wird und dass im Bundestag eine Aufarbeitung des Krisenmanagements stattfindet.

Über die vielen Menschen, die vielleicht aus Einsamkeit gestorben sind, ohne dass ihre Angehörigen sich haben verabschieden können, über die Suizide von Beschäftigten und Unternehmern, denen plötzlich die Existenzgrundlage weggebrochen ist – darüber wird aktuell noch viel zu wenig geredet. All das muss gesellschaftlich und politisch aufgearbeitet werden, in aller Ruhe, ohne Schaum vorm Mund, vielleicht auch in einer Enquete-Kommission.

Kann es sich Ihre Partei überhaupt leisten, schonungslos Bilanz zu ziehen, wo man doch selbst über Wochen als, wie Sie sagten, Lockdown-Partei agiert hat?

Ich glaube nicht, dass es irgendwo auf der Welt eine linke Partei gibt, die in den ersten Wochen der Krise in Radikalopposition zu Maßnahmen gegen Covid-19 gegangen wäre. Das ist nicht meine Kritik. Ich verlange allerdings, dass es angesichts der Tragweite der Maßnahmen und der tiefgreifenden Eingriffe in die Grundrechte ein Maximum an Transparenz, Aufklärungswillen und Aufarbeitung geben muss, auch mit Blick auf die epidemiologische Lage. Man muss zudem fragen, ob bestimmte Maßnahmen überhaupt noch verhältnismäßig sind. Man sollte den Leuten schon erklären, warum man zu Beginn der Infektionswelle Anfang März vom Tragen von Masken abrät, um dann am Ende der Welle eine international umstrittene Maskenpflicht zu verordnen. Aus medizinischer Sicht ist das für mich nicht nachvollziehbar.

Ist es für Sie nachvollziehbar, dass Deutschland oder die ganze Welt erst zur Normalität zurückkehren kann, sobald ein Impfstoff da ist?

Ich bin kein Impfgegner, ich bin selbst gegen viele Krankheiten geimpft. Am Beispiel der Schweinegrippe hat sich aber gezeigt, dass die damalige Panikmache den weltweiten Vertrieb von Impfdosen im Umfang von 30 bis 40 Milliarden Dollar befeuert hat, ohne dass es diese auch nur ansatzweise gebraucht hätte. Seither hat der Einfluss der Pharmaindustrie auf die Gesundheitspolitik eher noch zugenommen. Vielleicht kann ein Impfstoff zur Eindämmung von SARS-coV-2 beitragen, vielleicht kommt der Impfstoff aber auch zu spät, weil das Virus bis dahin mutiert ist oder die Ausbreitung vorher abebbt. Das weiß man alles nicht. Klar ist aber, dass die Herstellung eines Impfstoffes bei Coronaviren äußerst schwierig ist und es zahlreicher Vorabstudien bedarf, um gefährliche Nebenwirkungen zu vermeiden. Deshalb halte ich es für falsch, alle Hoffnung auf eine schnelle Herstellung eines Impfstoffes zu setzen. Und wenn 7,5 Milliarden Euro an öffentlichen Mitteln zur Unterstützung der Entwicklung eines Impfstoffes bereitgestellt werden, sollte man genau hinschauen, wie das Geld verwendet wird.

Im Zusammenhang mit Impfungen ist auch immer wieder von Bill Gates die Rede. Auch seinen Namen haben Sie bei Ihrer Rede in den Mund genommen. Diesen zu erwähnen, etwa im Kontext der Krise der Weltgesundheitsorganisation (WHO), findet Ihr Fraktionskollege Stefan Liebich „völlig falsch“. Wieso machen Sie es trotzdem?

Weil es viele Menschen beschäftigt. Ich hatte in den Tagen vor der Kundgebung Hunderte E-Mails zu dem Thema bekommen. Dass sich die WHO inzwischen nur noch zu etwa 20 Prozent aus regulären öffentlichen Mitteln der Mitgliedsstaaten finanziert, ist ein Riesenproblem. Die restlichen circa 80 Prozent kommen aus zweckgebundenen Spenden oder aus privaten Mitteln und der größte Spender ist Bill Gates. Das hat einen erheblichen Einfluss auf die gesundheitspolitische Ausrichtung der WHO, weil private Geldgeber eben auch finanzielle Interessen haben. All das konnte man noch vor wenigen Jahren und Monaten bei vielen großen deutschen Medien nachlesen. Diese Schieflage in der Finanzstruktur zugunsten großer Pharma- und Impfstoffproduzenten, Stiftungen und Einzelpersonen ist etwas, was insbesondere Die LINKE seit langem kritisiert. Warum sollte die Kritik ausgerechnet jetzt, wo viele darüber diskutieren, verstummen?

Ich will nicht über die Motive von Bill Gates spekulieren, er verfolgt aber fraglos auch Interessen und hat in diverse Pharmaunternehmen investiert. Ihn als Sündenbock für die Fehlentwicklungen der letzten 30 Jahre aufzubauen, lehne ich aber ab. Ich stelle bei der WHO eine starke Orientierung auf Impfprogramme fest, bei Unterbelichtung der sozialen Aspekte von Krankheiten, etwa dem Zugang zu sauberem Trinkwasser oder gesunder Ernährung. Eine so wichtige und notwendige Organisation wie die WHO sollte zu 100 Prozent aus den Mitgliedsbeiträgen der Staaten finanziert und auch demokratisch kontrolliert werden.

Werden Sie künftig noch einmal auf einer Corona-Demonstration reden?

Sich auf der Straße bei Kundgebungen zusammenzufinden, sich auszutauschen, zu demonstrieren, ist ein urdemokratisches Recht. Natürlich muss man schauen, wer da die Hegemonie hat. Bei der fraglichen Kundgebung in Aachen haben auch nicht alle wild gerufen: Schutzmaßnahmen weg! Nein, die Leute haben zugehört, sich ausgetauscht, diskutiert, Fragen gestellt.

Ich habe aber aktuell nicht vor, auf weiteren Kundgebungen aufzutreten, auch weil ich am Dienstag zum Berichterstatter des Europarates zu gesundheitspolitischen und rechtsbasierten Lehren aus der Corona-Pandemie gewählt worden bin. Der Bericht wird Ende Juni verabschiedet. Auf diese wichtige Aufgabe will ich mich jetzt voll konzentrieren.

 


Zur Person:

Andrej Hunko, Jahrgang 1963, ist Abgeordneter der Fraktion Die Linke im Bundestag, in der er als europapolitischer Sprecher und seit Anfang Februar dieses Jahres als stellvertretender Vorsitzender fungiert. Seit 2010 ist der Aachener überdies Mitglied der Parlamentarischen Versammlung sowie des Sozial- und Gesundheitsausschusses des Europarates. Seit 2015 ist er Vizechef der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken (UEL). Dem Bundesparteivorstand der Linken gehört er seit 2014 an.

Das Interview erschien zuerst am 22.05.2020 auf nachdenkseiten.de