«Die staatlichen Strukturen für den Katastrophenschutz sind alle heruntergekommen» 

Interview mit dem Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, MdB DIE LINKE

Zeitgeschehen im Fokus Sie haben die betroffenen Gebiete in Deutschland nach der Überschwemmungskatastrophe besucht. Wie war Ihr Eindruck?

Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Ich selbst komme aus Aachen und habe mir die kreisangehörigen Kommunen angeschaut, insbesondere die Gemeinden Kornelimünster und Stolberg. Dort war die Situation noch viel dramatischer und gravierender, als ich das aufgrund der Medienberichte erwartet hätte. Inzwischen war ich dreimal dort.

Wie stehen die Betroffenen das durch?

Die Menschen unterstützen sich gegenseitig, und bei den Aufräum­arbeiten spürt man eine starke Stimmung menschlicher Solidarität. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Man berichtet das auch aus anderen Katastrophengebieten. Da ist ein ganz grosser Zusammenhalt spürbar. Ich würde mir ein solches Verhalten der Menschen auch in anderen Situationen wünschen.

Das ist etwas sehr Positives, was der Mensch als soziales Wesen entwickeln kann. Wie hat sich die Katastrophe abgespielt?

Der Vichtbach fliesst direkt aus der Eifel nach Stolberg hinein. Oberhalb von Stolberg gibt es noch eine Talsperre. Danach läuft der Bach gerade auf den Stadtteil zu, in dem sich die Einkaufspas­sage und das Rathaus befinden. Zunächst kamen die Wassermassen an einem Umspannwerk vorbei. Durch den Druck des Wassers wurden die Trafoanlagen weggespült. Danach passierte er ein Industriegelände, das grundlegend beschädigt ist. Darauf schoss das Wasser in die Altstadt hinein. Der Fluss hat sich geteilt, und die Strassen wurden zum Hauptflussbett. So flossen die Wassermassen durch die Einkaufspassage in einer Höhe von 1 Meter 50 und zerstörten alles, was es dort gab. Wenn man hier hindurchläuft, ist man links und rechts von Ruinen umgeben.

Was bedeutet das für die Menschen, die dort wohnen?

Alles ist zerstört, es gibt keinen Strom, weil die Leitungen beschädigt sind und nur noch teilweise funktionieren. Auch die Trinkwasserversorgung ist zusammengebrochen. Wenn man dort wohnt, ist das sehr dramatisch. Besonders für ältere Leute. Man kann nicht mal schnell um die Ecke gehen, um etwas einzukaufen, weil alle Läden zerstört sind. Autos sind auch grösstenteils beschädigt oder gänzlich weggeschwemmt worden. Also, das tägliche Leben ist völlig eingeschränkt. Es funktioniert nichts mehr.

Die Schäden müssen immens sein, nachdem was Sie jetzt beschrieben haben.

Die Häuser sind schwer beschädigt, der Strassenbelag ist weggespült, an einer Stelle ist die Strasse 6 Meter nach unten abgesackt. Es sieht aus wie im Krieg.

Sie hatten eine Talsperre erwähnt. Welche Funktion hat diese?

Das ist die Dreilägerbachtalsperre in der Eifel. Hier kann Wasser abgelassen werden oder auch nicht. Das Staubecken dient vor allem der Trinkwasserversorgung, wenn es einmal eine längere Trockenperiode geben sollte. Es ist also nicht auf Hochwasserschutz ausgelegt. In dem Zusammenhang gibt es unter der Bevölkerung aber sehr viele Fragen.

Inwiefern?

Die Menschen beschäftigt, ob im Vorfeld genug Wasser abgelassen wurde, als die starken Regenfälle angesagt wurden, um zumindest die Auswirkungen des Regens zu begrenzen. Da hört man vor Ort viel Kritik. Hier ist noch einiges zu klären, aber es scheint so zu sein, dass in der Eifel die Politik bezüglich der Talsperren – es gibt in der Eifel noch weitere – einige Fragen aufwirft. Damit Wasser abgelassen werden darf, muss die Bezirksregierung in Köln die Genehmigung erteilen, und diese kam offenbar zu spät. Das muss jetzt geklärt werden.

Was sind denn die Kritikpunkte der Bevölkerung?

Neben dem erwähnten Wassermanagement betreffend die Talsperren hört man vor allem, dass die Warnsysteme überhaupt nicht funktioniert hätten. Die Bevölkerung beklagt, dass sie, wenn überhaupt, nur unzureichend und in der Regel gar nicht informiert bzw. gewarnt worden sei. Hier liegt in Deutschland sehr viel im argen.

In welchen Bereichen sind die Mängel zu orten?

Das ist auf verschiedenen Ebenen erkennbar bis hin zur Bundesebene. Die Katastrophenwarnsysteme scheinen nicht zu funktionieren. Man hat den Eindruck, dass hier in den letzten Jahren massiv geschlampt wurde. Letztes Jahr, also 2020, gab es einen bundesweiten «Warntag», der völlig «in die Hose» gegangen ist. Die Bundesregierung spricht selbst von einem «Fehlschlag». Sie haben die Warnsysteme getestet, auch die Sirenen, und alles, was dazugehört. Nichts funktionierte richtig. Dieser «Warntag» sollte im Jahr 2021 wiederholt werden, um bis dahin die Fehler zu beheben. Er hat aber bisher nicht stattgefunden und soll wieder auf das nächste Jahr verschoben werden. Das ist die offizielle Verlautbarung des Innenministeriums, des sogenannten Heimatschutzministeriums. Das ist ein starkes Stück und Ausdruck einer ungeheuren Schlamperei.

Waren nicht auch elektronische Systeme im Gespräch?

Es gibt Warn-Apps, die aber noch wenige auf ihrem Handy haben. Es gibt auch die Möglichkeit, direkt über Funkmasten eindeutige Warnungen über das sogenannte «Cell Broadcast» zu verschicken. Damit können alle mobilen Endgeräte erreicht werden, die in einer Funkzelle angemeldet sind, auch sehr alte Mobiltelefone. Es gibt bereits eine Richtlinie der EU («EU Alert»), dass dieses Verfahren überall eingeführt werden soll. In Deutschland werden dafür nun erste Vorbereitungen getroffen, wie die Bundesregierung auf meine Nachfrage mitteilte. Im Moment steht die Hilfeleistung, die Solidarität im Vordergrund, die Frage nach den Vermissten und wie man den Menschen helfen kann. Hierbei geht es um kurzfristige und langfristige Wiederaufbauhilfe. Das ist nicht in wenigen Monaten vorbei. Um das alles wieder aufzubauen, wird es Jahre dauern. Aber die Fragen müssen gestellt und beantwortet werden: Was ist hier schiefgelaufen?

Diese Fragen müssen doch rasch beantwortet werden, nur schon, um so etwas in Zukunft zu verhindern?

Das Hochwasser wird man nicht aufhalten können, aber die Schäden hätte man einschränken können. Es gibt auch ein europäisches Hochwasserwarnsystem (EFAS), an dem auch Deutschland teilnimmt. Auch diesbezüglich ist völlig unklar, was geschehen ist. Das System hat gewarnt. Aber auf der Pressekonferenz der verantwortlichen Ministerien hatte man den Eindruck, die Verantwortlichen wussten gar nicht, dass es dieses Warnsystem gibt. Es blieb der Eindruck, dass nichts funktioniert hat. Das sind beides CSU-Ministerien, und das ist schon auffallend.

Wenn ich das höre und dazu noch die Berichterstattung in den Schweizer Medien darüber lese, dass nahezu 200 Menschen durch das Hochwasser umgekommen sind, dann erstaunt mich das doch sehr. Deutschland ist technisch und infrastrukturell ein so hoch entwickeltes Land und muss am Ende eine solche Bilanz ziehen. Wie passt das zusammen?

Ja, genau, das fragt man sich, und das muss auch ganz minutiös aufgearbeitet werden. Warum hat man das Warnsystem über Cell Broadcast nicht verwendet? Warum funktionierte die Warnung über eine App so schlecht? Ein weiterer Aspekt, den man betrachten muss, sind die öffentlichen Infrastrukturen, die staatlichen Strukturen für den Katastrophenschutz. Die sind alle heruntergekommen, und das ist wohl eine Folge des Neoliberalismus. Öffentliche Infrastruktur wurde lange Zeit auf ein Minimum reduziert oder privatisiert. Auch wurde immer argumentiert, dass der Katastrophenschutz eine Reminiszenz aus dem Kalten Krieg sei wie z. B. die Sirenen. So vernachlässigte man das System. Die Sirenen funktionieren heute kaum noch.

Bei uns in der Schweiz gibt es jedes Jahr solche Tests, die Sirenen funktionieren.

Wie gesagt, in Deutschland ist der Test im September 2020 miss­lungen, was selbst das Innenministerium bestätigte. Aber dann hat man fast ein Jahr verstreichen lassen, ohne die Fehler zu beheben. Möglicherweise hätte man den Verlust von Menschenleben verhindern können, wenn konsequent daran gearbeitet worden wäre.

Wie ist das in Deutschland organisiert, wenn es zu solchen Umwelt- bzw. Naturkatastrophen kommt?

Das ist die zweite Diskussion, die jetzt aufgekommen ist. Man sagt, dass der Föderalismus das Problem sei, dass es zu viele Ebenen und Kompetenzen gebe und dass der Zentralismus besser sei. Das kann man untersuchen, aber ich glaube nicht, dass der Föderalismus an und für sich ein Problem darstellt.

Nein, im Gegenteil.

Die Schweiz ist ja auch föderalistisch organisiert.

Ja, das ist doch ein grosser Vorteil. Bei uns wissen die Kantone genau, wo die Gefahren lauern und wo die neuralgischen Punkte sind. Auf solche Unwetter können sie sich gezielt vorbereiten, was vor ein paar Wochen auch hervorragend geklappt hat.

Ich bin auch ein Freund des Föderalismus und sehe darin auch grosse Vorteile.

Was wäre denn zu tun, um ein solches Desaster in Zukunft zu verhindern?

Um das zu beantworten, müssen wir die verschiedenen Ebenen betrachten, die hier von Bedeutung sind. Sicher ist ein Problem der Klimawandel. Durch die Erwärmung gibt es mehr Regen und damit erhöht sich die Gefahr von Hochwasser. Zum einen muss man schauen, wie man den Klimawandel begrenzen kann und die Energieversorgung umstellt. Dann gibt es eine weitere Ebene, die Anpassung an den Klimawandel. Man muss sich darauf einstellen, dass solche Unwetterkatastrophen häufiger vorkommen werden und man entsprechende Vorkehrungen trifft. Das heisst konkret, man muss das Thema der Flächenversiegelung angehen. Je mehr Flächen versiegelt sind, desto weniger Wasser kann versickern. Das ist ein Problem, nicht nur in Deutschland.

Gibt es dazu nicht schon Projekte?

Es gibt Modelle von sogenannten Schwammstädten. In der Städteplanung muss dafür gesorgt werden, dass entsprechende Versic­kerungsmöglichkeiten vorhanden sind. Städteplanerisch muss hier vieles neu überlegt werden. Ein weiterer Punkt, der in manchen Regionen eine Rolle spielt, sind die Flussbegradigungen. Das hat man lange Zeit betrieben, etwa um dadurch schneller Waren transportieren zu können. Deshalb hat das Wasser weniger Platz und wird bei einer Flut ungebremst beschleunigt. Häufig hat man aus Schwemmflächen Parkplätze gemacht. Das sind Fehlentwicklungen aus der Vergangenheit, die teilweise rückgängig gemacht werden müssen, sonst rächt sich das. Als letzte Ebene sehe ich den bereits beschriebenen katastrophalen Zustand des Warnsystems.

Wie sieht das mit dem Versicherungsschutz der Menschen aus? Erfüllen die Versicherungen ihre Aufgaben oder sind sie tatsächlich mehr Finanzinstitute als Versicherungen?

Hier gibt es viele Probleme. Teilweise können sich Menschen in Risikogebieten gar nicht gegen Elementarschäden versichern, weil keine Versicherung dazu bereit ist oder die Beiträge unbezahlbar hoch wären. Teilweise versuchen die Versicherungen auch, sich durch Klauseln aus der Verantwortung zu ziehen. Natürlich ist es auch ein Problem, dass Versicherungen wie andere private Wirtschaftsunternehmen profitorientiert handeln und nicht dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Hier könnten andere, öffentliche Strukturen für Versicherungen andere Prioritäten setzen. Die Marktgläubigkeit verhindert dies jedoch in der Regel.

Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.

Interview Thomas Kaiser