Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Am 29. und 30.08.16 führte ich Gespräche in London, insbesondere zur Situation nach dem Brexit-Referendum in Großbritannien.

Meine Gesprächspartner/innen waren:

  • Tania Freiin von Uslar-Gleichen, Gesandte, in Vertretung des deutschen Botschafters
  • Joseph Choonara (SWP), Sprecher der Left-Exit-Kampagne (Lexit)
  • Natalie Louise Bennett, Vorsitzende der Green Party
  • Kate Hudson, Generalsekretärin der Kampagne für Nukleare Abrüstung (CND) und Vorsitzende von Left Unity
  • David S., Deutscher Unternehmensberater in London

Am Montagabend traf ich einen deutschen Unternehmensberater und Diplom-Mathematiker, der seit sieben Jahren in London lebt und arbeitet. David S., der nicht namentlich genannt werden möchte, ist vor einem Jahr der Labour-Partei beigetreten. Bei seiner Beschreibung der innenpolitischen Situation nach dem Referendum in Großbritannien benannte er zuerst den Anstieg von fremdenfeindlichen Übergriffen. Weiter wies er darauf hin, wie schwierig auch die operative Umsetzung des Brexits sei; angefangen von Neuverhandlungen von ca. 60 Handelsverträgen bis hin zur Neuausgabe aller Reisepässe. Nach seiner Einschätzung bräuchte Großbritannien mindestens zehn Jahre für die Umsetzung des Brexits.

David S. beschrieb die innerparteiliche Situation von Labour wie folgt: Das National Executive Committee (NEC), also im Grunde genommen der Parteivorstand, werde zurzeit durch eine knappe Mehrheit der Corbyn-Gegner/innen bestimmt. Das NEC habe Parteiausschlüsse in fünfstelliger Zahl von Corbyn Anhänger/innen erwirkt, darunter auch der Vorsitzende der Baker Union. Es gebe keine Anfechtungsmöglichkeiten gegen die Ausschlüsse. Die innerparteiliche Demokratie sei nicht vergleichbar mit deutschen Standards. Dennoch ist seine Einschätzung, dass Corbyn die Urabstimmung gewinnen wird, wenn auch nicht so deutlich wie erwartet. David S. berichtete, dass 61 Prozent der Labour-Anhänger/innen beim Brexit-Referendum für den Verbleib in der EU (Remain) gestimmt hätten, da die differenzierte Position von Corbyn zur EU glaubwürdig und nachvollziehbar gewesen sei.

Am Dienstagmorgen traf ich Tania Freiin von Uslar-Gleichen, die stellvertretende deutsche Botschafterin. Sie beschrieb die Instabilität und die chaotische Situation in Großbritannien. Es gebe bislang keine einheitliche Strategie der Regierung von Theresa May bezüglich der Brexit-Verhandlungen und eine große politische Spannbreite in dieser Frage im Kabinett. Außenministerium, Handelsministerium und das neu eingerichtete Brexit-Ministerium werden jeweils von Brexit-Befürwortern geleitet. Auch sieht die stellvertretende Botschafterin große operative Probleme wegen nicht ausreichendem Verhandlungspersonal. Die politische Landschaft in Großbritannien nimmt sie als instabil war. Sie rechnet mit Spaltungen sowohl bei den Tories als auch bei Labour sowie mit möglichen vorgezogenen Neuwahlen noch in diesem Jahr.

Anschließend traf ich Joseph Choonara, den Leiter der Left-Exit-Kampagne (Lexit), die den Ausstieg aus der EU von links begründete. Die Kampagne wurde unterstützt von der Socialist Workers‘ Party (SWP), der SP sowie kleineren Gewerkschaften. Choonara beschreibt die EU als ein neoliberales Projekt, das nicht reformierbar sei. Er stellt den Anstieg rassistischer Stimmungen in Großbritannien fest, hält aber dennoch die Pro-Exit Position weiterhin für richtig. Das Problem der Spaltung des radikalen Linken Pro-Exit-Lagers und des breiteren linken Remain-Lagers erkennt er an. Eine Rechtsabspaltung von Labour nach einem Corbyn-Sieg sei eher unwahrscheinlich, da die zwei größten Gewerkschaften hinter Corbyn stünden und „Spaltern“ die Basis fehlen würde.

Meine anschließende Gesprächspartnerin, Natalie Louise Bennet, ist seit 2012 Vorsitzende der Green Party of England and Wales. Während Bennetts Amtszeit stieg die Mitgliederzahl der Green Party von 13.000 auf über 60.000 Mitglieder. Bennet beschreibt die britische Green Party als linken Flügel innerhalb der europäischen Grünen. Sie berichtete, dass sich die britischen Grünen bereits auf Neuwahlen im November vorbereiten, wobei sie die Wahrscheinlichkeit der vorgezogenen Wahlen auf 40 bis 60 Prozent schätzt. Eine längere Verzögerung der Aktivierung von Artikel 50 zur Aktivierung der Brexit-Verhandlungen, etwa nach den Wahlen in Frankreich und Deutschland, durch Theresa May sei innenpolitisch kaum durchhaltbar. Der Druck von den Brexit-Befürwortern würde zu stark werden. Eine Möglichkeit dem Druck länger standzuhalten, wären Neuwahlen.

Bennet berichtete weiter, dass die Green Party mit Corbyn sympathisiere und bestätigte die fünfstellige Anzahl von Ausschlüssen innerhalb Labours. Sie bestätigte auch die Zunahme der fremdenfeindlichen Stimmung. Den Hauptgrund dafür sieht sie im verzweifelten Versuch der Menschen des Pro-Brexit-Lagers, Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen, auch aufgrund der sozialen Verwerfungen in Großbritannien durch den Neoliberalismus seit Thatcher. Die Green Party war ebenso wie Left Unity, Global Justice Now, einigen Gewerkschaften und Corbyn-Unterstützer/innen Teil der linken Remain-Kampagne.

Kate Hudson, meine letzte Gesprächspartnerin ist Vorsitzende von Left Unity sowie Vorsitzende der Kampagne für Nukleare Abrüstung (Campaign for Nuclear Disarmament, CND). Left Unity hat Beobachterstatus bei der Europäischen Linkspartei (EL) und war Teil der linken Remain-Kampagne. Hudson betont stark die fremdenfeindliche Stimmung im Zuge des Brexits. Am Tag unseres Gesprächs sei ein polnischer Arbeiter aus fremdenfeindlichen Motiven ermordet worden. Left Unity unterstützt die Pro-Corbyn-Kampagne; einige Mitglieder seien zu Labour übergetreten. Sie gibt aber zu bedenken, dass es in Europa kein Beispiel gibt, in dem sich eine zum Neoliberalismus gewendete sozialdemokratische Partei wieder zu einer linken Partei transformiert habe. Insofern sieht sie nur geringe Aussichten für Corbyn, Labour tatsächlich reformieren zu können. Hudson schätzt die gute Zusammenarbeit mit Corbyn, der innerhalb der CND ihr Stellvertreter ist.

Zusammenfassend stelle ich eine sehr instabile Situation in Großbritannien fest. Die fehlende Strategie der Regierung macht es zu einem großen Problem, den Brexit tatsächlich umzusetzen („Unscrumble an egg“ = Ein Rührei wieder zum Ursprungsei machen). Den Sieg Corbyns innerhalb von Labour schätze ich als sehr wahrscheinlich ein. Die politische Landschaft in Großbritannien kann sich in naher Zukunft stark verändern. Deutschland und die EU sollten meines Erachtens bzgl. des Brexits auf Druck und scharfe Töne verzichten.

Leider waren aufgrund des Bank Holidays am Anreisetag und der Nicht-Sitzungswoche viele Abgeordnete nicht in London, so dass einige geplante Termine nicht umsetzbar waren.

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

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